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Stimmen aus Ungarn: Pershing, Tomahawk, ATACMS – Wo bleiben diesmal die Massenproteste?
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Washington hat dem ukrainischen Militär die Erlaubnis erteilt, Langstreckenraketen auf Ziele tief im russischen Staatsgebiet abzuschießen. Die Entscheidung kommt wenig überraschend, nachdem das Pentagon im Sommer die Eskalation auf eine neue Stufe gehoben hat, indem es ankündigte, ab 2026, also nach den 1980er-Jahren, wieder Raketen unter US-Kommando in Deutschland zu stationieren, die tief in Russland einschlagen können. Beide Entscheidungen bedrohen die Sicherheit Europas und bringen die Aussicht auf einen Atomkrieg näher. Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, warum es heute in Europa keinen ähnlichen Protest wie gegen die Stationierung der Pershings gibt. Ein Beitrag von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Joe Biden hat der Ukraine die Erlaubnis erteilt, unter bestimmten Einschränkungen eine US-Langstreckenwaffe, das ATACMS-Raketensystem, auf russischem Territorium einzusetzen. Wie die New York Times berichtet, hat der US-Präsident diesen gefährlichen Schritt angesichts der Präsenz nordkoreanischer Truppen in Russland in der Region Kursk unternommen. Biden soll die Stationierung von ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von rund 300 Kilometern in dem Gebiet damit gerechtfertigt haben, dass die ukrainischen Streitkräfte sich auf russischem Boden verteidigen können und gleichzeitig eine Botschaft an das nordkoreanische Regime senden, keine weiteren Truppen zu entsenden. Darüber hinaus war die Entscheidung der USA vermutlich auch dadurch motiviert, den Ukrainern bei künftigen russisch-ukrainischen Friedensgesprächen eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen.
Bisher war die Regierung Biden strikt dagegen, dass die Ukraine russisches Territorium mit ihrem ATACMS-Überschallraketensystem angreift.
Die Ukraine bemüht sich seit Monaten um eine Genehmigung für den Einsatz der Raketen, mit dem Argument, dass die Waffe es ihr ermöglichen würde, „Ziele zu beschädigen, die die Kriegsmaschinerie des Kremls schwächen könnten“. Anfang dieses Jahres bat Kiew Washington, der Ukraine ATACMS-Raketensysteme zur Verfügung zu stellen, und im August darum, dass die ukrainischen Streitkräfte diese in Kursk einsetzen können. Wolodymyr Selenskyj kann also behaupten, dass einer der Punkte seines sogenannten Siegesplans erfüllt wurde. Das könnte für eine Weile verhindern, dass die Moral der ukrainischen Armee weiter geschwächt wird, und der Schritt der USA könnte die Briten und Franzosen sowie im Falle eines Wahlsieges der CDU auch die Deutschen zu einer ähnlichen Entscheidung veranlassen. Zwei Monate vor dem Abgang Joe Bidens und dem Amtsantritt des designierten US-Präsidenten Donald Trump, der damit gedroht hat, die Hilfe für die Ukraine zu kürzen, markiert die Entscheidung einen wichtigen Wandel in der Haltung der USA.
Der Schritt Bidens wurde gerade wegen Trumps Sieg erwartet. Der scheidende Präsident ist an nichts mehr gebunden, und wenn nicht zu seinen Vorstellungen, so passt sie doch in das Narrativ derer, die hinter ihm stehen. Außerdem kann er möglicherweise eine Situation schaffen, die bei einer überhaupt nicht auszuschließenden Eskalation den Handlungsspielraum des Nachfolgers einengt und es schwieriger macht, den Konflikt einzufrieren und einen Waffenstillstand mit starken Kompromissen für die Ukraine zu vereinbaren.
Doch die Entscheidung ist nach Ansicht vieler Experten nicht ohne Präzedenzfall. Wie Anatol Lieven in einem Beitrag darlegt, wurde sie im Wesentlichen dadurch ausgelöst, dass Deutschland zum ersten Mal seit den 1980er-Jahren zugestimmt hat, dass Washington ab 2026 drei Typen von US-Raketen auf seinem Territorium unter US-Kommando stationieren darf: den Marschflugkörper Tomahawk Block 4 mit einer Reichweite von etwas mehr als 1.000 Meilen (ca. 1.600 Kilometer), die Standard Missile-6 (SM-6) mit einer Reichweite von 370 Kilometern, die vor allem der Luftverteidigung dient, und die noch in der Entwicklung befindliche Long-Range Hypersonic Weapon LRHP (auch „Dark Eagle“ genannt) mit einer Reichweite von mehr als 2.900 Kilometern. Zwei dieser Raketen werden in der Lage sein, tief in Russland einzudringen und Moskau zu treffen.
Die Stationierung von Tomahawks und LRHP verstößt gegen den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) von 1987, der die Stationierung von bodengestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.000 Kilometern verbietet.
Die Trump-Administration ist jedoch 2019 aus dem INF-Vertrag ausgetreten, und Russland hat daraufhin seine Einhaltung ausgesetzt. Die Regierung Biden hat keinen Versuch unternommen, über eine Rückkehr zu diesem Vertrag zu verhandeln. Sowohl die Trump- als auch die Obama-Administration haben behauptet, dass Russlands ballistische SRBM-Rakete Iskander (nuklearfähig, aber nicht nuklear bestückt) mit einer angeblichen Reichweite von weniger als 500 Kilometern (innerhalb der Grenzen des INF-Vertrags), die in Kaliningrad stationiert ist (ein isoliertes Gebiet in der Ostsee, angrenzend an Polen und Litauen, 526 Kilometer von Berlin entfernt), in Wirklichkeit eine größere Reichweite hat und somit gegen den Vertrag verstößt.
Es ist außerdem nicht ausgeschlossen, dass die Stationierung der Tomahawks von Washington für ein zukünftiges Abkommen mit Russland wie bei den Pershings vorgesehen ist, aber in der Zwischenzeit schaffen sie erhebliche Unsicherheit.
Der einzige erklärbare Zweck der Stationierung von Tomahawk-Raketen in Deutschland ist laut Lieven das Angebot, diese im Rahmen eines neuen Abkommens mit Russland zur Reduzierung der Atomwaffen wieder abzugeben. Dies war auch das einzige positive Ergebnis der Stationierung von Pershing-II-Raketen in Westdeutschland in den 1980er-Jahren. Die Entscheidung über die Stationierung der Pershings im Jahr 1979 war nämlich von der Ankündigung begleitet, dass ein Abkommen ausgehandelt werden würde. Die jetzige Entscheidung wurde nicht von einer solchen Erklärung begleitet, und die gesamte Entwicklung der Rüstungskontrollvereinbarungen in den letzten zehn Jahren ging in die entgegengesetzte Richtung, hin zu einem unkontrollierten Wettrüsten. Die Vereinigten Staaten haben die Vereinbarungen zur Gewährleistung der strategischen Stabilität aufgekündigt, was die Sicherheit Europas auf erkennbare Weise geschwächt hat.
Wenn man dann noch bedenkt, dass vor den Toren Europas Krieg herrscht und Washington unter diesen Umständen zulässt, dass tief liegendes russisches Territorium von US-Langstreckenraketen angegriffen wird, dann gibt es Grund zur Sorge. Die US-Amerikaner brauchen sich natürlich keine Sorgen über eine mögliche Eskalation der Situation zu machen, da russische Mittelstreckenraketen zwar Deutschland, nicht aber die Vereinigten Staaten treffen könnten. In solchen Situationen – oder besser gesagt, um sie zu verhindern – wäre die strategische Autonomie Europas vonnöten. Es scheint jedoch, dass die gegenwärtigen europäischen Eliten höchstens darüber reden. Straßenproteste oder der Rückgang der Popularität könnte die Politiker dazu zwingen, diese Autonomie herbeizuführen.
Dieser Beitrag ist zuerst im ungarischen Original auf Moszkvater erschienen.
Titelbild: Shutterstock / Mike Mareen
1669 эпизодов
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Washington hat dem ukrainischen Militär die Erlaubnis erteilt, Langstreckenraketen auf Ziele tief im russischen Staatsgebiet abzuschießen. Die Entscheidung kommt wenig überraschend, nachdem das Pentagon im Sommer die Eskalation auf eine neue Stufe gehoben hat, indem es ankündigte, ab 2026, also nach den 1980er-Jahren, wieder Raketen unter US-Kommando in Deutschland zu stationieren, die tief in Russland einschlagen können. Beide Entscheidungen bedrohen die Sicherheit Europas und bringen die Aussicht auf einen Atomkrieg näher. Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, warum es heute in Europa keinen ähnlichen Protest wie gegen die Stationierung der Pershings gibt. Ein Beitrag von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Joe Biden hat der Ukraine die Erlaubnis erteilt, unter bestimmten Einschränkungen eine US-Langstreckenwaffe, das ATACMS-Raketensystem, auf russischem Territorium einzusetzen. Wie die New York Times berichtet, hat der US-Präsident diesen gefährlichen Schritt angesichts der Präsenz nordkoreanischer Truppen in Russland in der Region Kursk unternommen. Biden soll die Stationierung von ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von rund 300 Kilometern in dem Gebiet damit gerechtfertigt haben, dass die ukrainischen Streitkräfte sich auf russischem Boden verteidigen können und gleichzeitig eine Botschaft an das nordkoreanische Regime senden, keine weiteren Truppen zu entsenden. Darüber hinaus war die Entscheidung der USA vermutlich auch dadurch motiviert, den Ukrainern bei künftigen russisch-ukrainischen Friedensgesprächen eine bessere Verhandlungsposition zu verschaffen.
Bisher war die Regierung Biden strikt dagegen, dass die Ukraine russisches Territorium mit ihrem ATACMS-Überschallraketensystem angreift.
Die Ukraine bemüht sich seit Monaten um eine Genehmigung für den Einsatz der Raketen, mit dem Argument, dass die Waffe es ihr ermöglichen würde, „Ziele zu beschädigen, die die Kriegsmaschinerie des Kremls schwächen könnten“. Anfang dieses Jahres bat Kiew Washington, der Ukraine ATACMS-Raketensysteme zur Verfügung zu stellen, und im August darum, dass die ukrainischen Streitkräfte diese in Kursk einsetzen können. Wolodymyr Selenskyj kann also behaupten, dass einer der Punkte seines sogenannten Siegesplans erfüllt wurde. Das könnte für eine Weile verhindern, dass die Moral der ukrainischen Armee weiter geschwächt wird, und der Schritt der USA könnte die Briten und Franzosen sowie im Falle eines Wahlsieges der CDU auch die Deutschen zu einer ähnlichen Entscheidung veranlassen. Zwei Monate vor dem Abgang Joe Bidens und dem Amtsantritt des designierten US-Präsidenten Donald Trump, der damit gedroht hat, die Hilfe für die Ukraine zu kürzen, markiert die Entscheidung einen wichtigen Wandel in der Haltung der USA.
Der Schritt Bidens wurde gerade wegen Trumps Sieg erwartet. Der scheidende Präsident ist an nichts mehr gebunden, und wenn nicht zu seinen Vorstellungen, so passt sie doch in das Narrativ derer, die hinter ihm stehen. Außerdem kann er möglicherweise eine Situation schaffen, die bei einer überhaupt nicht auszuschließenden Eskalation den Handlungsspielraum des Nachfolgers einengt und es schwieriger macht, den Konflikt einzufrieren und einen Waffenstillstand mit starken Kompromissen für die Ukraine zu vereinbaren.
Doch die Entscheidung ist nach Ansicht vieler Experten nicht ohne Präzedenzfall. Wie Anatol Lieven in einem Beitrag darlegt, wurde sie im Wesentlichen dadurch ausgelöst, dass Deutschland zum ersten Mal seit den 1980er-Jahren zugestimmt hat, dass Washington ab 2026 drei Typen von US-Raketen auf seinem Territorium unter US-Kommando stationieren darf: den Marschflugkörper Tomahawk Block 4 mit einer Reichweite von etwas mehr als 1.000 Meilen (ca. 1.600 Kilometer), die Standard Missile-6 (SM-6) mit einer Reichweite von 370 Kilometern, die vor allem der Luftverteidigung dient, und die noch in der Entwicklung befindliche Long-Range Hypersonic Weapon LRHP (auch „Dark Eagle“ genannt) mit einer Reichweite von mehr als 2.900 Kilometern. Zwei dieser Raketen werden in der Lage sein, tief in Russland einzudringen und Moskau zu treffen.
Die Stationierung von Tomahawks und LRHP verstößt gegen den INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) von 1987, der die Stationierung von bodengestützten Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.000 Kilometern verbietet.
Die Trump-Administration ist jedoch 2019 aus dem INF-Vertrag ausgetreten, und Russland hat daraufhin seine Einhaltung ausgesetzt. Die Regierung Biden hat keinen Versuch unternommen, über eine Rückkehr zu diesem Vertrag zu verhandeln. Sowohl die Trump- als auch die Obama-Administration haben behauptet, dass Russlands ballistische SRBM-Rakete Iskander (nuklearfähig, aber nicht nuklear bestückt) mit einer angeblichen Reichweite von weniger als 500 Kilometern (innerhalb der Grenzen des INF-Vertrags), die in Kaliningrad stationiert ist (ein isoliertes Gebiet in der Ostsee, angrenzend an Polen und Litauen, 526 Kilometer von Berlin entfernt), in Wirklichkeit eine größere Reichweite hat und somit gegen den Vertrag verstößt.
Es ist außerdem nicht ausgeschlossen, dass die Stationierung der Tomahawks von Washington für ein zukünftiges Abkommen mit Russland wie bei den Pershings vorgesehen ist, aber in der Zwischenzeit schaffen sie erhebliche Unsicherheit.
Der einzige erklärbare Zweck der Stationierung von Tomahawk-Raketen in Deutschland ist laut Lieven das Angebot, diese im Rahmen eines neuen Abkommens mit Russland zur Reduzierung der Atomwaffen wieder abzugeben. Dies war auch das einzige positive Ergebnis der Stationierung von Pershing-II-Raketen in Westdeutschland in den 1980er-Jahren. Die Entscheidung über die Stationierung der Pershings im Jahr 1979 war nämlich von der Ankündigung begleitet, dass ein Abkommen ausgehandelt werden würde. Die jetzige Entscheidung wurde nicht von einer solchen Erklärung begleitet, und die gesamte Entwicklung der Rüstungskontrollvereinbarungen in den letzten zehn Jahren ging in die entgegengesetzte Richtung, hin zu einem unkontrollierten Wettrüsten. Die Vereinigten Staaten haben die Vereinbarungen zur Gewährleistung der strategischen Stabilität aufgekündigt, was die Sicherheit Europas auf erkennbare Weise geschwächt hat.
Wenn man dann noch bedenkt, dass vor den Toren Europas Krieg herrscht und Washington unter diesen Umständen zulässt, dass tief liegendes russisches Territorium von US-Langstreckenraketen angegriffen wird, dann gibt es Grund zur Sorge. Die US-Amerikaner brauchen sich natürlich keine Sorgen über eine mögliche Eskalation der Situation zu machen, da russische Mittelstreckenraketen zwar Deutschland, nicht aber die Vereinigten Staaten treffen könnten. In solchen Situationen – oder besser gesagt, um sie zu verhindern – wäre die strategische Autonomie Europas vonnöten. Es scheint jedoch, dass die gegenwärtigen europäischen Eliten höchstens darüber reden. Straßenproteste oder der Rückgang der Popularität könnte die Politiker dazu zwingen, diese Autonomie herbeizuführen.
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