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Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte

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Alevs Onkel Cem liegt im Koma. Für Alev, die in einem deutsch-türkischen Elternhaus aufgewachsen ist, ist er die stärkste Verbindung zur türkischen Seite der Familie. Während Alevs Vater kaum etwas von der Zeit erzählt, bevor er nach Deutschland gekommen ist, besticht ihr Onkel durch Gesprächigkeit und beste Laune. Cem ist in der Türkei geblieben, hat Karriere als Unternehmer gemacht und versucht, die weit verstreute Familie mit rauschenden Festen zusammenzuhalten. Nun ist er am Steuer seines Autos zusammengebrochen und dem Tod nahe. Sein ungewisses Schicksal treibt Alev ebenso um wie die politische Lage in der Türkei: Denn Leyla Bektaş‘ Roman setzt im Jahr 2017 ein – und damit kurz vor Verfassungsreferendum, das dem türkischen Präsidenten ein Jahr nach dem Putsch mehr Befugnisse sichern soll:
In den Monaten darauf hielten alle den Atem an. Die Verbindung in die Türkei war wie gekappt. Niemand aus der Familie traute sich, in die Türkei zu fliegen. Täglich hörte man von unzähligen Festnahmen. Es war ungewiss, in welche Richtung es ging. Alev beobachtete die Ereignisse aus der Ferne.

Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte

Dass Alevs Vater ungern über die Familiengeschichte spricht, hat auch damit zu tun, dass er und seine Vorfahren einer religiösen Minderheit in der Türkei angehören: den Aleviten. Weil sie seit langer Zeit Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sind, haben sich viele Aleviten angewöhnt, ihre Religion zu verstecken. Geschickt verschränkt Leyla Bektaş in ihrem Roman verschiedene Zeitebenen miteinander und wechselt vom Jahr 2017 in die Vergangenheit: Sie erzählt, wie Alevs Vater in den 70er Jahren nach Deutschland kommt, auch beeinflusst von den Pogromen gegen Aleviten.

Von der Gewalt gegen die Aleviten

Später behandeln einzelne Kapitel die 80er und 1990er Jahre und beleuchten wie im Zeitraffer die jüngere türkische Geschichte. Sie erzählen vom wirtschaftlichen Aufstieg des Landes und davon, wie die Religion in der Politik eine immer größere Rolle spielt. Übergriffe auf Aleviten bleiben dabei an der Tagesordnung. So sorgt im Jahr 1993 ein Brandanschlag auf ein Hotel, in dem sich alevitische Künstler aufhalten, für Schlagzeilen:
An den Barrikaden, die sich vor der jubelnden Menge auftürmen, entzünden sie das Feuer. Das Hotel, so hat Alev es woanders gelesen, war aus Holz gebaut. Darin befanden sich alle Teilnehmer des Festivals, denn die Menge hatte das Hotel eingekesselt, es gab keinen Hinterausgang. Die Barrikaden sind das letzte Zeichen von innen, das nach außen dringt.

Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte

Die Stummheit überwinden

Wie meine Familie das Sprechen lernte ist ein einfühlsamer Familienroman. Wie auch Ronya Othman in ihrem Roman Die Sommer erzählt Leyla Bektaş vom Aufwachsen zwischen zwei Welten und dem Bewusstmachen der eigenen Familiengeschichte. Da für Alev die eigene Herkunft im Ungefähren liegt, hat sie lange keine Worte für ihre Geschichte und die ihrer Familie. Als im Unterricht die Sprache ein einziges Mal auf die Aleviten kommt, bleibt sie stumm:
Etwas in Alev regte sich, aber sie traute sich nicht zu widersprechen. Sie wusste nicht, auf welche Beweise sie sich stützen sollte. Alles, was sie über Aleviten wusste, hatte sie in irgendwelchen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, war für sie mit Rätseln belegt. Nichts davon schien gesichert. Alev öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Was hätte sie sagen können? Das Alevitentum ist all das, was der Islam nicht ist.

Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte

Das Sprechen-Lernen, das schon im Titel anklingt, vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Auch mit Hilfe ihres Onkels, der aus dem Koma erwacht ist, versteht Alev, wie sehr Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalt die Familie geprägt haben. In dem sie sich diese Geschichten aneignet, trägt Alev auch dazu bei, sie zu bewahren. In Anbetracht der rasanten Geschwindigkeit, mit in der Türkei Geschichte über- und neu geschrieben wird, ist dieser präzise erzählte Familienroman auch politisch hochaktuell.
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In den Monaten darauf hielten alle den Atem an. Die Verbindung in die Türkei war wie gekappt. Niemand aus der Familie traute sich, in die Türkei zu fliegen. Täglich hörte man von unzähligen Festnahmen. Es war ungewiss, in welche Richtung es ging. Alev beobachtete die Ereignisse aus der Ferne.

Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte

Dass Alevs Vater ungern über die Familiengeschichte spricht, hat auch damit zu tun, dass er und seine Vorfahren einer religiösen Minderheit in der Türkei angehören: den Aleviten. Weil sie seit langer Zeit Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sind, haben sich viele Aleviten angewöhnt, ihre Religion zu verstecken. Geschickt verschränkt Leyla Bektaş in ihrem Roman verschiedene Zeitebenen miteinander und wechselt vom Jahr 2017 in die Vergangenheit: Sie erzählt, wie Alevs Vater in den 70er Jahren nach Deutschland kommt, auch beeinflusst von den Pogromen gegen Aleviten.

Von der Gewalt gegen die Aleviten

Später behandeln einzelne Kapitel die 80er und 1990er Jahre und beleuchten wie im Zeitraffer die jüngere türkische Geschichte. Sie erzählen vom wirtschaftlichen Aufstieg des Landes und davon, wie die Religion in der Politik eine immer größere Rolle spielt. Übergriffe auf Aleviten bleiben dabei an der Tagesordnung. So sorgt im Jahr 1993 ein Brandanschlag auf ein Hotel, in dem sich alevitische Künstler aufhalten, für Schlagzeilen:
An den Barrikaden, die sich vor der jubelnden Menge auftürmen, entzünden sie das Feuer. Das Hotel, so hat Alev es woanders gelesen, war aus Holz gebaut. Darin befanden sich alle Teilnehmer des Festivals, denn die Menge hatte das Hotel eingekesselt, es gab keinen Hinterausgang. Die Barrikaden sind das letzte Zeichen von innen, das nach außen dringt.

Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte

Die Stummheit überwinden

Wie meine Familie das Sprechen lernte ist ein einfühlsamer Familienroman. Wie auch Ronya Othman in ihrem Roman Die Sommer erzählt Leyla Bektaş vom Aufwachsen zwischen zwei Welten und dem Bewusstmachen der eigenen Familiengeschichte. Da für Alev die eigene Herkunft im Ungefähren liegt, hat sie lange keine Worte für ihre Geschichte und die ihrer Familie. Als im Unterricht die Sprache ein einziges Mal auf die Aleviten kommt, bleibt sie stumm:
Etwas in Alev regte sich, aber sie traute sich nicht zu widersprechen. Sie wusste nicht, auf welche Beweise sie sich stützen sollte. Alles, was sie über Aleviten wusste, hatte sie in irgendwelchen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, war für sie mit Rätseln belegt. Nichts davon schien gesichert. Alev öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Was hätte sie sagen können? Das Alevitentum ist all das, was der Islam nicht ist.

Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte

Das Sprechen-Lernen, das schon im Titel anklingt, vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Auch mit Hilfe ihres Onkels, der aus dem Koma erwacht ist, versteht Alev, wie sehr Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalt die Familie geprägt haben. In dem sie sich diese Geschichten aneignet, trägt Alev auch dazu bei, sie zu bewahren. In Anbetracht der rasanten Geschwindigkeit, mit in der Türkei Geschichte über- und neu geschrieben wird, ist dieser präzise erzählte Familienroman auch politisch hochaktuell.
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